Die längste Bahnstrecke der Welt. Und mit Sicherheit die berühmteste. Ein Bindeglied zwischen Naturräumen, Völkern und Kulturen. Ein Meisterwerk der Ingenieurskunst und mittlerweile über hundert Jahre alt.
So viel zu den Fakten. Aber welch eine Vorstellung: Eine Reise durch den gesamten asiatischen Kontinent. Von Peking nach Moskau mit der Transsibirischen Eisenbahn. Auf den ersten Blick endlos erscheinende 7865 Kilometer mit der Eisenbahn, quer durch Asien und lediglich ein vergleichsweise kleines Stück durch Europa.
In meinem Gepäck: 18 kg Kleidung für jede Wetterlage, im Kopf ein Meer von Erwartungen und ein ganzes imaginäres Fotoalbum mit Bildern der einzelnen Reisestationen, von denen viele im Laufe der Reise von der Realität eingeholt und überholt werden sollten.
Da meine Erinnerungen an eine Interrail-Reise durch Europa vor mehr als 10 Jahren mehr und mehr verblasst waren und die Gedanken an unruhige Nächte auf harten Sitzbänken überhand gewonnen hatten, habe ich mich in meinem Reisebüro gegen eine Fahrt im Regelzug der Transsibirischen Eisenbahn und für eine Reise im von einem deutschen Reiseveranstalter gecharterten Sonderzug Zarengold entschieden. Meine Freunde warnten mich, „Karsten, die Hygiene!“, oder „Karsten, pass bei dem Essen auf Deinen Magen auf!“, und ich gebe zu: auch ich hielt es nicht für ausgeschlossen, dass möglicher Weise selbst westlichen Touristen eintöniges Essen in abgenutzten Restaurantwagen serviert werden könnte, selbstverständlich bei verstopften Sanitäreinrichtungen. Befürchtungen hin, Vorurteile her, in Breschnews ehemaligem Regierungszug erwartete mich nostalgisches Flair in den ebenso plüschigen wie geräumigen Abteilen und das stilvolle Dinieren von frisch zubereiteten Köstlichkeiten in beeindruckenden historischen Speisewagen. Unweigerlich allabendlich der Gedanke, welche Pläne und Verträge hier einst zwischen Politprominenz und Geheimdienst wohl geschmiedet wurden …
Bei Buchung der Reise hatte ich die Auswahl zwischen 4 Abteilkategorien: Vor allem der Wohlklang des Namens und der geschichtliche Hintergrund waren wohl ausschlaggebend für meine intuitive Entscheidung, in der Kategorie Nostalgie Komfort zu reisen, die neben dem guten Gefühl prominenter vorangegangener Reisender auch die Vorteile eines kleinen Dusch-/Waschraums bietet, der jeweils zwischen zwei Abteilen zur Verfügung steht. Um schließlich Begegnungen der ungewollten Art mit dem Abteilnachbarn im kleinen Bad zu vermeiden, riet uns unser Reiseleiter Valerij vor Beginn der Fahrt eindringlich, gut darauf zu achten, während der Morgen- oder Abendtoilette ja auch immer die Tür zum Nachbarabteil zu verriegeln. Die Gäste der erst vor einem Jahr in Dienst gestellten modernen De-Luxe Schlafwagenkategorie Bolschoi, dem Besten, was es derzeit auf der Transsibirischen Eisenbahn zu bieten gibt, bekamen diesen guten Rat sicherlich nicht, verfügen sie doch pro Abteil über ein eigenes Bad mit Dusche und WC. Von Nostalgie hier jedoch keine Spur. Selbst der DVD-Player mit Flachbildschirm fehlt nicht, so dass abends ein Titel wie der legendäre Eisenstein-Streifen Panzerkreuzer Potemkin aus der Bord-Videothek auf dem Programm stehen kann. Fraglich nur, ob nach einem ausgefüllten Reisetag mit visuellen, kulinarischen und kulturellen Eindrücken en masse überhaupt noch das Verlangen nach den schönen Künsten besteht.